Leseprobe "Mit Kummer ohne Sorgen"

16. Februar 2020


Das also ist Les Sables-d´Olonne. Jener Ort an der französischen Atlantikküste, der Segelbegeisterten auf der ganzen Welt ein Glänzen in die Augen zaubert. Alle vier Jahre starten von dem beschaulichen Badeort an der Biskaya die besten Einhandsegler zur legendären Vendée Globe, zu der wohl härtesten Regatta, die der Segelsport zu bieten hat. Einmal rund um den Globus. 24.000 Seemeilen nonstop. Quer über alle Ozeane. Vorbei an Kap Hoorn, dem Kap der Guten Hoffnung und entlang der Treibeisgrenze durch das Südpolarmeer. Die „Roaring Forties“ sind berüchtigt für Sturm, Regen und hohen Seegang. Schlafmangel, extreme körperliche Anstrengungen und überall lauernde Gefahren sind die ständigen Begleiter der wagemutigen Männer und Frauen auf ihren hochgerüsteten Yachten, die wie Nussschalen wirken auf dem weiten Meer. Mehrfach kam es zu Unfällen, einige endeten tödlich. Armel Le Cléac’h, ein Franzose, hält den Rekord bei dieser unglaublich entbehrungsreichen Regatta. 74 Tage, 3 Stunden, 35 Minuten und 46 Sekunden brauchte er für das Rennen über den Jahreswechsel 2016/2017. 

Unweigerlich muss Sebastian Kummer an die Vendée Globe denken, als er an der Strandpromenade von Les Sables-d´Olonne steht und auf den Atlantik starrt. Kummer, ein hagerer Mann, der sein schlohweißes Haar mittellang trägt, empfindet für die Leistung der Segler beim Vendée Globe höchsten Respekt. Noch ahnt er nicht, dass auch seine Reise, die in wenigen Tagen an diesem besonderen Ort beginnen soll, ihn an die Grenzen der Belastbarkeit bringen wird - und somit in die internationalen Medien. Zeitungen und Magazine werden über ihn berichten, Radio- und Fernsehstationen Beiträge senden. Und sein Konterfei wird als Aufmacher auf der Titelseite der türkischen Hürriyet gedruckt werden. Schon gar nicht ahnt Kummer an diesem Sonntag, dass aus seinem Segeltörn eine Odyssee werden wird, die länger dauert als die Vendée Globe. Auch hat er keine Vorstellung davon, dass er sein Abenteuer, das er zusammen mit Freunden startet, schon sehr bald als Einhandsegler bestreiten muss. Dass er wochenlang allein auf dem Mittelmeer ausharren muss, weil kein Land ihn einreisen lässt. Dass er sich vor der Küstenwache verstecken muss wie ein Illegaler, der er streng genommen auch sein wird. Und das alles wegen eines Virus, das am anderen Ende der Welt ausgebrochen ist. In Wuhan, China.

Als Kummer seine Reise beginnt, scheint Corona unendlich weit weg. Dass die Welt, wie wir sie bislang kannten, in wenigen Wochen aus den Fugen geraten und völlig verrückt spielen wird, kann zu diesem Zeitpunkt noch niemand wissen. Und doch hat Kummer das leise Gefühl, dass sich da etwas Lautes zusammenbrauen könnte. Es ist nur ein Bauchgefühl, wie ein leises Grummeln. Aber es will nicht vergehen.

Kummer ist nach Les Sables-d´Olonne gereist, um für eine Charterbasis einen werftneuen Katamaran in die Türkei zu überführen. Das Ziel seiner Reise ist Göcek, ein mondäner Badeort an der türkischen Südküste, unweit der Kreisstadt Fethiye, die dem kleinen Golf mit seinen vielen Inseln den Namen gibt. Der Plan ist, zusammen mit wechselnden Crews, die Lagoon 46 mit dem Namen „Blu“ über die Biskaya und durch die Straße von Gibraltar ins Mittelmeer zu segeln. Vorbei an Portugal und Spanien, dann nach Italien und Griechenland und schließlich in die Türkei. Von Göcek aus will Kummer aber nicht zurück nach Österreich fliegen. Dort wechselt er lediglich das Boot, um eine Lagoon 45 nach Kroatien zu überführen. Das ist der Plan. Die „Sunce 2“ kennt Kummer wie seine Westentasche, sie gehörte einmal ihm. Viele Abenteuer hat er auf ihr bereits gemeistert. Aber das größte steht noch bevor. Es wird eine stürmische Nacht kommen, in der Kummer kurz davor ist, das Bewusstsein zu verlieren. Für einen kurzen Moment rechnet er sogar mit dem Schlimmsten.

Als Kummer im Februar 2020 in Les Sables-d´Olonne seine Reise beginnt, geht er davon aus, spätestens Mitte April, wieder in Wien zu sein. Der Zeitplan ist ambitioniert, aber machbar – zumindest, wenn Wind und Wetter mitspielen. Rund 2.800 Seemeilen sind es bis in die Türkei, dann noch einmal 1.100 Seemeilen nach Kroatien. Rund 7500 Kilometer Seeweg. Weiter als ein Flug von Berlin nach New York. Die Crewmitglieder, die Kummer in Etappen begleiten werden, sind erfahrene Segler und Freunde von ihm.

Wolken in allen Schattierungen von Grau ziehen am Himmel über Les Sables-d´Olonne vorbei. Es ist der 16. Februar, ein Sonntag, und über der Biskaya tobt wie so oft ein Sturm. Der Wind wirft meterhohe Wellen an die befestigte Uferpromenade. Nein, bei diesem Wetter will und kann er nicht auslaufen, denkt Kummer. Schon ein Blick auf die Wetterdaten, da war er noch auf der Anreise, hatte ihm verraten, dass es stürmisch sein würde. Kummer ist ein Mann der Zahlen, Professor an der Wirtschaftsuniversität in Wien. Der 57-Jährige kann Zahlen also deuten. Und Wetterdaten sowieso.

Kummer hat Salzwasser im Blut. Er stammt aus einer segelbegeisterten Familie in Nordrhein-Westfalen. Als Kind lernte er im Optimist das Segeln auf dem Möhnesee bei Unna, wo er geboren wurde. Später stieg er in den Laser um, trainierte viel und nahm an Regatten teil, und weil er ehrgeizig und talentiert war, schaffte er es in den Kader des Deutschen Segler Verbands. Im Jahr 1980 segelte er für Deutschland bei der Weltmeisterschaft der Laser in Kanada. Mehr als ein Platz im Mittelfeld war aber bei der stürmischen Regatta nicht für ihn drin. Als Leichtgewicht konnte er sich bei wenig Wind an die Spitze des Feldes taktieren, bei viel Wind fehlte ihm aber die Substanz. Später segelte er einige Seeregatten, wie Helgoland – Edinburgh, überquerte den Atlantik und entdeckte den Pazifik. Mehr als 30.000 Meilen stehen in seinem privaten Logbuch. Man kann sagen, Kummer ist ein sehr erfahrener Skipper.

Doch wie er da so steht, die klobigen Bausünden der 70er Jahre am drei Kilometer langen Sandstrand mit dem wohlklingenden Namen „Grande Plage“ im Rücken, die aufgewühlte und aufschäumende Biskaya im Visier, da fühlt er sich ganz klein in Anbetracht der Urgewalten des Meeres. Angst vor der See hat Kummer nicht, aber Respekt. Er spürt den Wind im Gesicht, hört die tosende Brandung, schmeckt das Salz in der Luft. Da braucht es keinen Blick auf Zahlen und Daten. Er weiß, dass bei so einem Wetter der beste Platz im Hafen ist.

Port Olona liegt malerisch inmitten der Stadt, verbunden nur durch eine lange, schmale Wasserrinne mit der Biskaya. Von dem großen Yachthafen mit rund 1600 Liegeplätzen ist es nicht weit bis zur Strandpromenade in die eine Richtung, in der anderen liegt das alte Les Sables-d´Olonne, dessen Architektur die Geschichte eines ehemaligen Fischerdorfes erzählt, das Ende des 19. Jahrhunderts von der Pariser Aristokratie als Sommersitz entdeckt wurde. Neben kleinen Fischerkaten stehen Herrenhäuser reicher Reeder und Villen in Bäderarchitektur verschiedener Stilformen.

Kummer zückt sein Smartphone, öffnet WhatsApp und tippt im Adressbuch auf „Mit Kummer ohne Sorgen“. In der Gruppe ist die gesamte Familie versammelt. Als Kummer vor einiger Zeit die Gruppe einrichtete, fand er den Namen lustig. Am Telefon erklärt er so auf Nachfrage immer seinen Namen, anstatt ihn zu buchstabieren. „Kummer - nur ohne Sorgen“, sagt er und lacht.


(….)


20. März 2020


Die Ausläufer des Corona-Tiefs haben die Blu längst erreicht. Kummer befindet sich bereits in schwerer See, auch wenn er noch nicht wirklich realisiert hat, welch gewaltige Wellen die Pandemie schon schlägt. Es ist der 20. März, vor einem Monat ist der Professor in Frankreich gestartet, da war die Welt noch in Ordnung. Seit zehn Tagen segelt er allein an Bord, da vernahm er bereits den Donner, aber das Gewitter wähnte er weit weg. Vor zwei Tagen ist die Welt völlig aus den Fugen geraten, Kummer bekam davon nichts mit. Er war auf hoher See, fernab jeder Küste. Seit er Mallorca verlassen hatte, allein und ohne Crew, drehte sich die Welt um ihn herum immer schneller, während er gemächlich mit sechs Knoten, getrieben nur vom Wind, geradewegs auf einen Orkan zusteuerte. Kummer wusste, als er die Balearen verließ, dass er Italien nicht anlaufen durfte. Er kalkulierte das Risiko und ging es ein. Es schien ihm überschaubar. Die Blu ist ein sicheres Schiff und Kummer ein erfahrener Segler. Das einzige Risiko, das er sah, waren die Nachtfahrten. Und nicht Corona.

Kummer hoffte bei seiner Abreise auf Mallorca, hätte er Italien einmal passiert, sich ausruhen zu können von den Strapazen. Irgendwo in Griechenland. Er freute sich anfangs auf einsame Buchten, die vielen Inseln mit den kleinen Häfen und Tavernen in weiß-blau getünchten Steinhäusern. Doch je länger Kummer auf See war, um so schwieriger wurde die Lage an Land. Und so stimmte er Volkan, dem Stationsleiter von Pitter-Yachting in Göcek, zu, dass eine schnelle Passage der griechischen Gewässer, ohne einen Hafen anzulaufen, wohl die beste Lösung wäre, da war von einem Lockdown in Griechenland noch keine Spur. 

Doch dann fielen die Schlagbäume wie Dominosteine, ein Land nach dem anderen schottete sich ab, schloss die Grenzen. Albanien machte am 9. März den Anfang, Italien folgte einen Tag später, Kroatien am Tag darauf. Spanien verhängte am 14. März eine Ausgangssperre über das ganze Land, wenig später dann Frankreich. Das Auswärtige Amt in Berlin veröffentlichte Reisewarnungen im Takt eines Depeschendienstes. Die Karte der Mittelmeeranrainerstaaten färbte sich rot. Und rot bedeutet: No entry! Gerade noch rechtzeitig hatte Kummer sich um das „Sailing Permit“ für Griechenland gekümmert. Oder war es etwa mit den neuen Bestimmungen ebenfalls erloschen? So sehr Kummer auch im Netz nach einer Antwort suchte, er konnte keine finden, die zu seinem Spezialfall passte. Aber er wollte Griechenland ja nur passieren, nicht einchecken. Und eine Alternative gab es nicht. Wo hätte er denn hinsegeln sollen? Kein Land an der Küste würde ihn mehr einlaufen lassen. Und so entschloss sich Kummer, seine Reise fortzusetzen.

(...)


26. März 2020


Kummer ist in der Türkei angekommen, nach knapp 3000 Meilen auf See. Doch von einem Hochgefühl fehlt jede Spur. Vielmehr ist Kummer traurig und fassungslos ob seiner Situation. Er kann immer noch nicht fassen, was in Griechenland passiert ist. Zum ersten Mal in seinem Leben wurde ihm Gefängnis angedroht. Und schlimmer noch, er wurde mit einer Waffe bedroht. Aber er ist zu müde und erschöpft, um sich weitere Gedanken darüber zu machen. Er geht in seine Koje und schläft sofort ein. Am nächsten Morgen notiert er in seinem privatem Tagebuch: „Gestern Nacht war ich in einer Art Autopilotmodus. Ich hatte einfach nur funktioniert, auch war ich sehr traurig, darüber, was passiert war. Die Begegnung mit der Coast Guard hat mir ein wenig die Stimmung verdorben. Vorher war ich so glücklich und hatte den Tag genossen. Aber ich weiß, mir geht es gut, bin in einer wunderschönen und nautisch sicheren Bucht. Nur die Angst vor der Küstenwache und ein wenig vor Hobbypiraten ist da. Ich werde versuchen, wieder auf Urlaubsfeeling umzustellen.“ Noch während Kummer diese Zeilen schreibt, blickt er aus dem Panoramafenster seiner Kajüte. „Wie passend“, denkt er, als er in den bedeckten Himmel schaut.

Doch trotz des Grau am Horizont, besinnt sich Kummer auf seine größte Stärke - den grenzenlosen Optimismus. Er schaut durch das Fenster mit großen Augen, wie ein Kind bei seiner ersten Bahnfahrt. Und was er sieht, gefällt ihm. Die Natur um ihn herum ist wirklich beeindruckend. Die sanften Berge, die die Bucht einrahmen, erblühen Ende März in einem satten Grün, überall sprießen Blumen zwischen den großen Steinen, die an bunte Farbkleckse auf einem Aquarell erinnern.   Irgendwo kräht ein Hahn. Auch das kristallklare Wasser spielt mit der Farbe, geht von einem tiefen Blau in der Mitte Bucht über alle Schattierungen in ein Hellgrün am Uferbereich über. Direkt oberhalb der Einfahrt zu der Bucht, thront eine alte Festung. Zur Seeseite ist sie ein Bollwerk mit einer 330 Meter langen Mauer, bis zu acht Meter hoch. Die Überreste sind noch gut erhalten. Zwischen den dicken Mauern kraxeln Ziegen, Esel knabbern an den wuchtigen Wehrtürmen an Gräsern. Er genießt die Ruhe in dieser einsamen atemberaubenden Naturkulisse und fühlt sich gleich viel besser.

Doch es dauert nicht lange, da vernimmt Kummer ein Geräusch, das ihn beunruhigt. Erst ist es ganz leise, dann mal verschwunden, um kurz darauf lauter und deutlicher zurückzukehren. Kummer kann anfangs das Geräusch nicht konkret zuordnen, schon gar nicht erkennen, woher es kommt. Es klingt wie ein monotones Stampfen. Das Echo hallt an den Bergen der Bucht, reflektiert den Schall von links nach rechts, von vorne nach hinten. Dann wird das Geräusch immer klarer. Kummer ist sich jetzt sicher, dass es das dumpfe Pochen eines Dieselmotors ist. Er bekommt also Besuch. Gebannt blickt der Skipper zur Einfahrt der Bucht. „Bloß nicht die Küstenwache“, denkt er. Doch dann schiebt sich ein kleines weißes Fischerboot durch die schmale Enge. Kummer atmet erleichtert auf.


(…)




7. Mai 2020


Als die Sonne im Meer versinkt, ist Kummer zwischen Rhodos-Stadt und Lindos. Nach sechs Wochen in seinem „Niemandsland“, versteckt in sicheren Buchten vor Wind, Wetter und der Küstenwache, nach Tagen des Hoffens und des Bangens, hat die Türkei ihm trotz offiziellen Einreiseverbots ermöglicht, mit der Blu in Fethiye einzuchecken und mit der Sunce 2, einer Lagoon 450, wieder auszureisen. Das ganze Prozedere, das Kummer an eine Geheimdienstoperation erinnerte, hat er dem Engagement eines ominösen Geschäftsmannes mit besten Kontakten in diplomatische Kreise zu verdanken. Aber noch ist Kummer nicht zu Hause. Vor ihm liegen 1100 Seemeilen, die er Einhand bis nach Kroatien segeln muss. 

Mit Einbruch der Nacht schläft der Wind ein. Auch Kummer ist müde. Nachts um 3 Uhr, er schläft und wacht im Wechsel von fünfzehn Minuten, hat der Wind aber wieder zugenommen und Kummer setzt das Groß. Das stabilisiert den Kat und sorgt zugleich für mehr Speed. Doch der Wind nimmt immer weiter zu. Um 5.30 Uhr muss Kummer reffen. Der Wind erreicht in Spitzen bereits 40 Knoten, die Welle kommt von der Seite. Unangenehm, besonders auf einem Kat.

Der Wind fühlt sich auf der Flybridge an, als würde Kummer auf der Ladefläche eines Pick-ups stehen, der mit 70 Stundenkilometern über die Landstraße düst. Dazu schüttet ihm jemand in regelmäßigen Abständen einen Eimer mit Wasser über den Kopf. Mindestens dreimal wird Kummer auf der Flybridge komplett gespült, mehrmals muss er ablaufen, geht auf raumen Wind. Er steuert jetzt geradewegs auf Libyen zu. Aber die seitlichen Wellen sind einfach zu gefährlich. Jedes Mal, wenn der Wind nachlässt, luvt Kummer wieder an, versucht Strecke zu machen. Er ist müde. Ausgelaugt. Und gestresst.

Die griechische Küstenwache hat ihn mehrfach angefunkt, obwohl er sich außerhalb der Zwölfmeilenzone befindet. Seit dem Vorfall in der griechischen Bucht vor mehreren Wochen, als er im Angesicht der Mündung einer Maschinenpistole die griechischen Gewässer verlassen musste, ist Kummer etwas paranoid. Als er die Genua bei 30 Knoten Wind verkleinern will, verklemmt sich die Reffleine. Eine prekäre Situation, vor allem, weil der Wind immer weiter zunimmt. Er muss handeln und zwar sofort. Doch beim Versuch, die Leine zu lösen, gerät das, wovor sich jeder Segler fürchtet. Vor allem Einhandsegler. Seine linke Hand gerät zwischen Rolle und Schot.

Höllische Schmerzen schießen durch Kummers Körper. Er ist gefangen, gefesselt auf der Flybridge. Der Autopilot steuert stoisch weiter, Kummer kann ihn nicht erreichen, so sehr er sich auch reckt und streckt. Er müsste in den Wind fahren, um den Druck aus dem Segel zu nehmen, anders kann er sich nicht befreien. Kummer versucht ruhig zu bleiben, seine Lage zu analysieren. Aber sie scheint aussichtslos. Er kann sich nur befreien, wenn er die Klemme der Reffleine löst, doch dann wird seine Hand wegen des enormen Drucks im Segel weiter in die Rolle gezogen, vielleicht sogar abgerissen. Kummer kennt solche Berichte.

Als er die Ausweglosigkeit seiner Lage realisiert, wird ihm vor Schmerz bereits schwarz vor Augen. Er hat das Gefühl, ohnmächtig zu werden. „Dann sterbe ich hier“, schießt es ihm durch den Kopf. Aber er will dieses Los nicht akzeptieren, nicht nach tausenden Seemeilen auf dem Meer, nicht nach den vielen Wochen in Isolation. Jedes Problem konnte er meistern und jetzt soll er wegen einer kleinen Unachtsamkeit sterben? Vor seinem inneren Auge sieht er sich, gefangen in der Klemme, und wie die Sunce 2 unter Autopilot immer weiter segelt, bis sie irgendwo an einer Klippe zerschellt.

Das soll es also gewesen sein? Ein unwürdiges Ende, findet Kummer. Also besinnt er sich wieder auf seine Stärken. Und eine ist die Planung. Er geht jedes erdenkliche Szenario im Kopf durch. Er muss die Klemme lösen, das steht fest. Aber was passiert dann? Kummer rechnet damit, dass die Leine ihm mindestens einen Finger abtrennen wird. Er könnte also verbluten. Außer, er ist schnell genug, um in den Salon zu kommen und aus der Bordapotheke die Tourniquet zu holen, um die klaffende Wunde abzubinden und die Blutung zu stoppen. Die Gefahr allerdings ist, dass der Schmerz ihn in die Ohnmacht treibt und er an Deck verblutet. Doch es gibt keinen Plan B, keinen der Sinn macht. Also setzt er alles auf eine Karte. Er muss die Klemme lösen – und mit der rechten Hand die linke befreien. Irgendwie. Nach einem kurzen Moment des Zögerns legt er die Klemme um.